VIIVI LUIK, geboren am 6.11.1946 im Landkreis Fellin (Viljandi), Estland. 1954-1964 besuchte sie verschiedene Grund-und Mittelschulen in Südestland. Erste Gedichtveröffentlichtung 1962. Erste Bischpublikation 1965. Ab 1965 in Tallinn als Bibliotekarin und Archvarin tätig. Ab 1967 freiberufliche Schriftstellerin in Tallinn. Mitglied des Estnischen Schriftstellerverbands seit 1970. Auslandreisen und ausgedehnte Auslandsaufenthalte, u.s. In Finnland, Deutschland, Schweiz, Italien und USA. Seit 1974 verheiratet mit dem estnischen Schriftsteller und Diplomaten Jaak Jõerüüt. Gehört zu den wichtigsten estnischen Lyrikern ihrer Generation. Ihre erste Gedichtsammlung erschien 1965. Bisher hat sie zehn Gedichtbände, drei Romane sowie Essays, Hörspiele und Kinderbücher veröffentlicht. Die intensive Lyrik Viivi Luiks zeichnet sich durch sensible Fähigkeit aus, Vorgänge und soziale Spannungen der Umwelt einzufangen, und dies ist in hohem Mass auch ein Merkmal ihrer Prosa. 1985 erschien ihr auch weltweit bekanntgewordener Roman „Der siebte Friedensfrühling“ (deutsch bei Rowohlt 1991). Ihr zweiter Roman „Die Schönheit der Gesichichte, 1991 (deutsch bei Rowohlt 1995) war der erste im freien Estland erschienene Roman überhaupt. Seine hleichzeitig erschienene finnische Übersetzung wurde sehr gut aufgenommen, und die Rechte für das Buch sind inzwischen nach Schweden, Norwegen, Dänemark, Spanien, Island, Lettland, Russland, Frankreich, England, Niederlande und Deutschland verkauft. Auszeichnungen: Estnische Literaturpreis (1975, 1976, 1982, 1987), Lyrikpreis (1988), Kulturpreis der Republik Estland (1992), Verdienstordens des Estnischen und Finnischen Staates (2000 und 1993) Das Stipendium der Stadt Bielefeld, Deutschland 1993 Das stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD-Stipendium), Berlin 1996 Das Spender-Trusts-Stipendium, England 2000 Albert-Koechlin-Stiftungstipendium, Schweiz 2003 Gruppe Olten-Stipendium, Schweiz 1988 Als ausländische Autorin an den Solothurner Literaturtage 1992.
VIIVI LUIK begann als Dreijährige Lesen zu lernen und verfasste bereits als Erstklässlerin Gedichte. 1960 beteiligte sie sich an Schreibwettbewerben, die von verschiedenen Jugend- und Provinzzeitschriften und -zeitungen veranstaltet wurden. Die angehende Dichterin nahm sich vor, jeden Tag zu schreiben, und füllte ein Heft nach dem anderen: „Es gab zwei Möglichkeiten, entweder werde ich eine kleine Graphomanin oder eine Schriftstellerin. Ich war 14 und spürte, dass die beiden nächsten Jahre die entscheidenden sein würden.“ (zitiert nach Kiin 1980) Zwei Jahre später erfolgte ihr Debüt, als eine Zeitung in Viljandi (Südestland) ein Gedicht der 16-jährigen Schülerin abdruckte, 1963 folgten Veröffentlichungen in landesweiten Presseorganen. Anfang der sechziger Jahre geriet Luik auch in Kontakt mit literarischen Kreisen in Tartu, die unter anderem in geringer Auflage so genannte Schüleralmanache verbreiteten. Ein solches Verfahren war in der Sowjetunion durchaus üblich und keineswegs verboten, denn erst ab einer Auflage von 50 Exemplaren bedurften Publikationen der Genehmigung durch die Zensurbehörde.
1963 Die sechziger Jahre in Sowjetestland wurden später von manchen als „Goldene Sechziger“ verklärt: 1953 war Stalin gestorben, 1956 wurde von Chruschtschow in einer Geheimrede vor dem XX. Parteitag der KPdSU der Stalinkult entzaubert, und im Kontrast zur bedrückenden Stalinzeit sorgte das Ende der fünfziger Jahre einsetzende politische Tauwetter tatsächlich für gewisse Lockerungen. Für Estland bedeutete dies eine Eruption des aufgestauten lyrischen Potenzials. Neben den Älteren, die zeitweilig zum Schweigen verurteilt gewesen waren, drängten nun auch jüngere Dichterinnen und Dichter an die Öffentlichkeit. Der zentrale Verlag für Belletristik veröffentlichte 1962 bis 1968 fünf Buchkassetten mit jeweils drei oder fünf kleinen Debütbändchen, und im Rahmen der dritten Kassette erfolgte 1965 die erste Buchpublikation von Viivi Luik miteinander.
Die sechziger Jahre in Sowjetestland wurden später von manchen als „Goldene Sechziger“ verklärt: 1953 war Stalin gestorben, 1956 wurde von Chruschtschow in einer Geheimrede vor dem XX. Parteitag der KPdSU der Stalinkult entzaubert, und im Kontrast zur bedrückenden Stalinzeit sorgte das Ende der fünfziger Jahre einsetzende politische Tauwetter tatsächlich für gewisse Lockerungen. Für Estland bedeutete dies eine Eruption des aufgestauten lyrischen Potenzials. Neben den Älteren, die zeitweilig zum Schweigen verurteilt gewesen waren, drängten nun auch jüngere Dichterinnen und Dichter an die Öffentlichkeit. Der zentrale Verlag für Belletristik veröffentlichte 1962 bis 1968 fünf Buchkassetten mit jeweils drei oder fünf kleinen Debütbändchen, und im Rahmen der dritten Kassette erfolgte 1965 die erste Buchpublikation von Viivi Luik („Pilvede püha“, Festtag der Wolken).
Nach ihrem Debüt legte Luik in rascher Folge weitere Lyrikbände vor, sechs innerhalb der nächsten zehn Jahre (1966-1975). 1977 erschien ein fast 200 Seiten umfassender, festgebundener Auswahlband der erst 30 jährigen Autorin, der etwa die Hälfte ihrer bis dahin erschienenen Gedichte enthält („Luulet 1962-1974″, Dichtung 1962-1974). Dies war im damaligen (sowjet-)estnischen Verlagswesen ein ungewöhnlicher Vorgang und weist auf Luiks besondere Popularität und ihren wichtigen Platz innerhalb der estnischen Lyrik hin. Mit zwei weiteren Bänden („Maapäälsed asjad“, Irdische Dinge, 1978; „Rängast rõõmust“, Aus schwerer Freude, 1982) schloss die Dichterin ihr lyrisches Werk im Großen und Ganzen ab. Später erschienen, verstreut in Zeitschriften, nur noch wenige neue Gedichte. Luiks lyrisches Gesamtwerk besteht aus ca. 440 Gedichten.
Bei einer Einordnung Luiks in die gesamte estnische Literatur- oder auch nur Lyrikgeschichte wird oft darauf hingewiesen, dass sie die Tradition der großen estnischen Lyrikerinnen fortsetze: Diese Tradition beginnt mit der Begründerin der modernen estnischen Dichtung, Lydia Koidula (1843-1886), führt über Anna Haava (1864-1957), Marie Under (1883-1980), Betti Alver (1906-1989), Kersti Merilaas (1913-1986) und Debora Vaarandi (geb. 1916) zu Viivi Luik und setzt sich mit Doris Kareva (geb. 1958) fort. Diese Einordnung ist zwar völlig korrekt, aber auch problematisch, weil sie dem falschen Eindruck Vorschub leistet, innerhalb der estnischen Literaturgeschichte sei die von Frauen verfasste Lyrik grundsätzlich anders einzuordnen und zu bewerten als die von Männern. Tatsächlich ist es so, dass die Texte in der Regel nichts über das Geschlecht ihres Autors verraten, das somit nur untergeordnete Bedeutung besitzt. Innerhalb der Geschichte der estnischen Lyrik fällt allenfalls auf, dass der oben genannten Linie von Autorinnen nicht ohne Weiteres eine ähnliche von Autoren gegenüber gestellt werden kann und dass sie insofern das Rückgrat der estnischen Dichtung bildet.
Viivi Luiks Position lässt sich folglich als die eines außerordentlich wichtigen Gliedes innerhalb der estnischen Dichtung beschreiben. Sie gehört zu der Generation, die die Form erneuerte bzw. die freien Rhythmen in die estnische Lyrik einführte. Sie vertritt innerhalb dieser Strömung nicht nur die Naturlyrik, sondern auch eine Art „Stadtpoesie“ wie etwa ihre Kollegen Paul-Eerik Rummo (geb. 1942) und Juhan Viiding (1948-1995). Betrachtet man den besonderen Stellenwert der Natur in ihrer Lyrik, so lassen sich Vergleiche zu Jaan Kaplinski (geb. 1941) ziehen, der zeitgleich mit ihr debütierte und dessen Dichtung sich besonders durch naturphilosophische Elemente auszeichnet. Luiks so genannte „Vaterlandslyrik“ – eine Dichtung, die eine besondere emotionale Verbindung zu Land und Volk zum Ausdruck bringt – zeigt Berührungspunkte mit der allerdings wesentlich plakativeren Vaterlandslyrik von Hando Runnel (geb. 1938; er debütierte wie Kaplinski in derselben Kassette wie Luik).
Die 38 Gedichte im Debütband „Pilvede püha“ (Festtag der Wolken) stammen aus dem Zeitraum vom Dezember 1961 bis Oktober 1963; Luik war bei der Niederschrift also 15 bzw. 16 Jahre alt. Größtenteils handelt es sich um Naturlyrik, und so ist der Band – beginnend mit dem Winter – den Jahreszeiten entsprechend in vier Zyklen eingeteilt. Von der Form her findet sich neben gereimten und halbgereimten Gedichten auch völlig freigestaltete Poesie. Diese Form (bzw. Formlosigkeit) war innerhalb der estnischen Literatur noch ziemlich neu und fand erst seit dem Ende der fünfziger Jahre, u. a. bei Jaan Kross, Verwendung – argwöhnisch betrachtet von sowjetischen Kunstwächtern, die hierin eine gewisse (westliche) Dekadenz sahen. Desungeachtet scherten sich die meisten Dichterinnen und Dichter in jenen Jahren nicht um die traditionellen Formen und ließen ihrer Phantasie und Versgestaltung freien Lauf. Luiks Gedichte reihen sich hier nahtlos ein und fallen darüber hinaus durch eine gewisse Frühreife – ohne altklug zu sein – auf, während gleichzeitig noch die Schülerin in der Autorin durchschimmert (s. etwa „,Ood` algebrale“, „Ode“ an die Algebra). Schon in diesen frühen Gedichten verspürte die Autorin ihre Berufung. In einem Gedicht mit der sarkastischen Überschrift „Teeidüll“ (Wegesidyll) formuliert sie ihre Zähigkeit und ihr Durchsetzungsvermögen: „Wie ein Faustschlag peitscht mir der Wind ins Gesicht – / verrückt ist er – das weiß ich schon lange. / Eiskalte Stille, die Sonne löscht düster ihr Licht, / durchweichte Fetzen ziehen am Himmel entlang. // Ich gehe auf feuchtem Weg, voller Dreck und Matsch, / blutrot sehe ich vor mir eine Espe stehn / Ich gehe auf feuchtem Weg, voller Dreck und Matsch, / und ein Ende, verdammt, ist nicht abzusehn.
Dieses Gedicht wurde von der Kritik als „Störenfried“ bezeichnet, weil es wie ein schriller Klang die ansonsten harmonische Naturlyrik durchschneidet, aber genau dieses Gedicht ist der Schlüssel zu Luiks weiteren Lyrik. So formulierte ihr Kollege Paul-Eerik Rummo in der Rückschau: „Wer hätte damals ahnen können, dass gerade aus diesem einzigen bitteren Senfkorn etwas keimen wird, was heute im Gewebe von Viivi Luiks Werk vielleicht den charakteristischsten Stoff darstellt?“ Für die Autorin war auf jeden Fall die Entscheidung gegen die Graphomanin und für die Schriftstellerin gefallen. Sie siedelte nach Tallinn über und war nach wenigen unselbständigen Berufsjahren ab 1967 nur noch freischaffende Autorin.
Die ersten beiden Gedichtbände, „Pilvede püha“ und „Taevaste tuul“ (Wind der Himmel, 1966), fallen insofern unter die Rubrik Naturlyrik, als der Natur bzw. bestimmten Naturelementen wie „Wind“, „Himmel“, „Sonne“, „Schnee“ oder „Wolken“ eine tragende Rolle zukommt. Die Autorin belässt es jedoch nicht bei Naturbeschreibungen und einer möglichen Einflechtung eigener Stimmungen dazu, sondern drückt umgekehrt Gedanken, Wünsche, Fragen und Gefühle durch Begriffe aus der Natur aus. Folgerichtig ist nicht sie es, die die Natur liebt, sondern die Natur liebt sie: „Du weißt ja: / die Stille des Schnees / liebt mich. / Sprich zu mir / in der Sprache / des fallenden Schnees!“ („Sa ju tead“, Du weißt ja, in: „Taevaste tuul“). In diesen Gedichten drückt sich eine besondere Verbundenheit mit der Natur aus, auch ein Gefühl der Geborgenheit in der Natur, ein Sich-Wiedererkennen in ihr. Gleichzeitig wird die Fähigkeit, sich darüber zu äußern, zur Existenzgrundlage und zum Schreibimpuls: „Wenn die Menschheit nicht mehr in der Lage ist, ihre Gefühle mit Worten auszudrücken, dann kann sie auch keine Gefühle mehr haben.“ (in: Looming 1983).
Mit einfachen Mitteln gelingt es Luik, dem Anthropozentrismus eine Alternative gegenüber zu stellen. So bekommt der „Wind“ Subjektqualitäten und menschliche Züge, er kann jemanden aufhalten oder etwas erlauben, er kann „im Mohngarten schreiten“, „die Wolken vor den Geburtswehen des Regens bewahren“. Jemand kommt „in Begleitung des Windes“, dieser Wind kann auch angsprochen und um etwas gebeten werden, er kann küssen usw. Im Band „Taevaste tuul“ ist das Wort „Wind“ in drei Vierteln aller Gedichte vertreten, im Gesamtwerk über 150 Mal, d. h. in über einem Drittel aller Gedichte der Autorin. Auch das häufige Vorkommen des „Himmels“ – in einem Viertel aller Gedichte – ist ein Indiz dafür, dass in der Luik’schen Welt im Zentrum nicht unbedingt der Mensch steht, sondern der Mensch nur ein Teil einer größeren, wenn man will göttlichen, Ordnung ist.
Blumennamen, Jahreszeiten, Blüten, Farben, Bäume kommen auch in den folgenden Lyrikbänden vor, werden nun aber bereichert um das urbane Element: Schon im zweiten Band taucht die Stadt als Gegenpol zum behüteten Land auf. Im Band „Lauludemüüja“ (Die Liedverkäuferin, 1968) drängt dieser Kontrast stärker in den Vordergrund. Eine ganze Reihe von Gedichten setzt sich mit der Stadt auseinander, die auch als Bedrohung empfunden wird: „Eines Tages / wird man nirgendwohin mehr gehen können / hinter den trüben Scheiben lauern die Häuser.“ In einer zeitgenössischen Kritik betonte Luiks Kollege Jaan Kaplinski, dass ihre Lyrik eine Reaktion auf Reizwörter wie „Urbanisierung“, „Entfremdung von der Natur“, „Umweltverschmutzung“ sei und dass den Beobachtungen der Dichterin eine besondere Bedeutung zukomme, wie einem Kanarienvogel, den Grubenarbeiter mit sich führen, um rechtzeitig über Sauerstoffmangel informiert zu werden: „Was sie empfindet und ausdrücken kann, wird uns allen vielleicht erst morgen oder übermorgen klar. Umso dankbarer sollten wir solchen Autorinnen und Autoren sein, die manchmal in ihrer Aufgewecktheit frühzeitig (rechtzeitig?) die Anzeichen einer nahenden Krankheit bemerken. Die Lieder der Liederverkäuferin haben den Wert von Symptomen.“ (Jaan Kaplinski)
Die Form von Luiks Gedichten wurde lockerer und freier und verzichtete zunehmend auf den Reim. Besonders der Band „Hääl“ (Stimme, 1968) zeichnet sich durch völlig freie Rhythmen aus und bietet neben seitenlangen Gedichten auch knappe, lakonische Dreizeiler. Zusammen mit „Ole kus oled“ (Sei wo du bist, 1971), worin zu einem Drittel Gedichte aus früheren Veröffentlichungen enthalten sind, bildet dieser Band einen Wendepunkt im lyrischen Werk Luiks: Hier wird am meisten mit der Form experimentiert; es finden sich zahlreiche assoziative, vielleicht auch hermetisch zu nennende Gedichte: „Wenn die Bäume kahl werden, / kommt das Jahr / zum Vorschein. // Alle Landschaften sind aus Wachs. / Und immer schwerer fällt es mir, / mir Bienen auszudenken.“ („Kui puud jäävad raagu“, Wenn die Bäume kahl werden, in: „Ole kus oled“). Schließlich kommen bislang weitgehend ausgesparte Themen wie der andere Mensch, die Liebe und der Tod hinzu.
In den folgenden Bänden „Pildi sisse minek“ (Eingang ins Bild, 1973), „Põliskevad“ (Ewiger Frühling, 1975) und „Maapäälseed asjad“ (Irdische Dinge, 1978) festigt sich die Form der Gedichte zu vierzeiligen Strophen, wobei allerdings sowohl die Zeilenlänge als auch die Anzahl der Strophen erheblich variieren können. Luik blieb bei diesem Versmuster und verwendete nur noch ganz vereinzelt strengere Formen wie Haiku oder Sonett, die allerdings auch in ihrer früheren Dichtung nur sporadisch vorgekommen waren. Die meisten dieser Gedichte sind nun gereimt, vorwiegend nach dem Schema a b a b. Dies korrespondiert mit einer Straffung im Inhalt; häufig wird eine abgeschlossene Geschichte, eine eigene kleine Welt präsentiert.
Die Stadt als Lebensumgebung ist nach wie vor eine inspirierende Quelle, die Einstellung zu ihr jedoch nicht mehr nur negativ bestimmt. Sie ist auch Heimat geworden, nach der man sich sogar sehnen kann: Das Gedicht „Suvel. Suvine. Suvi“ (Im Sommer. Sommerlich. Sommer, in: „Maapäälsed asjad“) beginnt mit der euphorischen Zeile „Im Sommer geht’s aufs Land, da gibt’s die Beeren vom Strauch!“, entwickelt im weiteren Verlauf den geheimen und dann in die Tat umgesetzten Wunsch, wieder in der Stadt zu sein, und endet mit einem erleichtert aufseufzenden „Bist wieder in der Stadt! Holzböcke gibt’s hier nicht.“
Die zuletzt genannten Bände zeigen größere Abgeklärtheit, ein gewisses soziales Element, eine Art Verantwortungsgefühl, das an die Stelle der früheren Impulsivität tritt: „Erinnerst du dich noch daran, und alle, die andere rufen, / nicht die Zeit ist gut oder schlecht, sie ist so, wie du sie gestaltest?“ („Meeldetuletus“, Mahnung, in: „Põliskevad“) Dieser Text ruft ein berühmtes Gedicht von Artur Alliksaar (1923-1966) in Erinnerung, das mit den Worten beginnt: „Es gibt keine besseren, schlechteren Zeiten. / Es gibt nur den Moment, in dem wir verweilen“. Das Gedicht war 1968 erschienen, und es ist charakteristisch für Luik, dass sie hin und wieder direkte Bezüge zur früheren estnischen Dichtung herstellt. So ist beispielsweise das schon in ihrem Debütband auftretende Motiv des zu beschreitenden Weges ein Bild von Ernst Enno (1875-1934), der auch noch bei anderen Gedichten Pate gestanden hat. Der Titel ihres Bandes („Rängast rõõmust“, Aus schwerer Freude, 1982) ist einem Gedicht von Gustav Suits (1883-1956) entlehnt. Es entspricht dem Selbstverständnis einer Autorin, die als Teenager den Entschluss gefasst hatte, Schriftstellerin zu werden, dass sie ihr Werk in die Literatur ihres Landes einbettet und manchmal versteckt, manchmal offen (beispielsweise in Form von Widmungen) ihren Vorgängerinnen und Vorgängern ihre Reverenz erweist.
Ihr Bekenntnis zum estnischen Volk formulierte Luik im Gedicht „Elukutse“ (Beruf, in: „Maapäälsed asjad“) – geschrieben im Alter von 30 Jahren: „Bleistifte liebe ich wirklich / ja, das estnische Volk und Bleistifte. / Im weißen Schnee ist plötzlich ein Streifen, / ein Bleistiftstrich. / Der kann so manches bezeichnen, / aber für mich bezeichnet er die Minuten, / die geblieben sind, die zum Glück auch noch bleiben / von Falschheit verschont.“ Das Gedicht endet mit einer Solidaritätserklärung an die Stadt und an ihr Volk: „In den Zimmern brennen die Lampen, / auf dem Platz schmelzen Schnee und Salz. / Solch ein Wetter liebte ich, / denn anderes ist hier auch nicht. / In der dunklen Zeit, im Dezember, / wenn Heizung und Strom verbraucht werden, / dann denkt an mich, / denn ich hab an euch gedacht.“
Luiks neunter Gedichtband „Rängast rõõmust“ erschien 1982. Er brachte ihr lyrisches Werk auch inhaltlich zu einem Abschluss. Die durchweg lobende Kritik war sich einig und konstatierte mehrfach, dass die Autorin mit diesem Gedichtband eigentlich alles gesagt habe, eine weitere Vertiefung sei nicht mehr möglich. Tatsächlich beschrieb die Autorin hier noch einmal ihre Berufung und ihren Standpunkt; sie erwies sich als Dichterin, die ihre Rolle gefunden hat, und festigte damit ihre führende Position innerhalb der estnischen Lyrik. Die Form der Gedichte ist einfach und streng und hat jedwedes spielerische Element, das in früheren Bänden hier und da anzutreffen war, abgelegt. Dadurch haftet den Versen eine gewisse Schwere an, ohne jedoch pathetisch zu wirken. Sie bezieht Stellung, auch zu ihrem Land: „Zwischen dem fünfunddreißigsten und vierzigsten Lebensjahr / betrachte deine Hände / gegen das Licht, / den stolzen Glanz des Blutes zwischen den zehn Nägeln / des Blutes, das nichts wert ist / ohne Sprache und Land“ („Rängast rõõmust“, Aus schwerer Freude), und weiter: „Hier stehe ich jetzt, dies ist mein Platz / Meine Welt ringt mit sich / es ist mein Jahrhundert / (…) In meinen Schädel ist eingestanzt Estlands Karte. / Estlands Roheit, Sturheit und Hass / jetzt bin ich an der Reihe. …“ („Ladvad liigutavad …“, Die Wipfel bewegen sich).
Luiks Prosadebüt erfolgte 1974 mit der Novelle „Salamaja piir“ (Die Grenze des Geheimhauses), die parallel zum Gedichtband „Pöliskevad“ verfasst wurde. Der Text bietet eine Fortführung ihrer Lyrik mit prosaischen Mitteln. Im Zentrum steht der Wohnort der Autorin, die estnische Hauptstadt Tallinn; der Titel ist ein Wortspiel mit einem Tallinner Stadtteil („Kalamaja“, deutscher Name „Fischermay“). Die Erzählung ist – in der dritten Person abgefasst – ein innerer Monolog der Hauptfigur Mark Renter, eines jungen Studenten, der in einer Kombination aus Kindheitserinnerungen und Gegenwartsbetrachtungen auf der Suche nach seinem eigenen Ich ist. Die anderen Figuren, ein schriftstellernder Freund oder eine Geliebte, tauchen nur als Impulsgeber für Gedanken und Assoziationen der Hauptperson auf, die versucht, die Phänomene „Zeit“ und „Raum“ in den Griff zu bekommen. So wird eine mystische Atmosphäre geschaffen, ohne dass der Text endgültig Position bezieht oder eine Lösung bereithält. Der Text hat etüdenhaften Charakter, verwendet häufig den Konditional und scheint Dinge, Gefühle, Befindlichkeiten ausprobieren zu wollen, wobei viele aus der Poesie der Dichterin bekannte Elemente und Symbole Verwendung finden.
Luiks Wechsel zur Prosa ist weniger abrupt, als er von der Kritik manchmal dargestellt wurde. 1982, als ihr abschließender Gedichtband erschien, beendete sie auch einen sehr erfolgreichen Roman, an dem sie drei Jahre geschrieben hatte: „Der siebte Friedensfrühling“; veröffentlicht wurde er 1985.
Der relativ wirklichkeitsgetreue Bericht einer Kindheit umspannt den Zeitraum vom Herbst 1950 bis zum Frühjahr 1951. Dieser Frühling war für Estland, das nach der Annexion durch die Sowjetunion (1940) von 1941 bis 1944 vom Deutschen Reich besetzt und somit Kriegsschauplatz war, der siebte in Friedenszeiten. Die deutschen Truppen hatten Ende November 1944 nach erbitterten Rückzugsgefechten das Land verlassen, so dass 1945 in Estland Frieden, wenn auch eine Pax sovietica, herrschte. Das Buch ist in 15 locker miteinander verbundene Abschnitte eingeteilt, die keinen linearen Handlungsablauf nachzeichnen, sondern eine episodische Schilderung der Ereignisse und Lebensumstände in Estland im Jahr 1950/51 liefern.
Die Handlung spielt nahezu ausschließlich auf dem Lande, und zwar auf dem südestländischen Hof der Ich-Erzählerin, eines etwa fünfjährigen Mädchens. Zentrale Personen sind die Mutter und die Großmutter des Mädchens, ferner Nachbarn, einige Verwandte und der Dorfbibliothekar. Der Vater ist – abkommandiert zur sozialistischen Aufbauarbeit – weitgehend abwesend und tritt nur sporadisch als Bote aus einer fremden, nach Öl riechenden Welt in Erscheinung. Andererseits hat er stets Apfelkerne in der Tasche und pflanzt sie, wo immer er ist, in die Erde. Auf diese Weise bemüht er sich, dem ungestümen, manchmal grob-brutalen Kind Respekt vor der Natur einzuflößen.
Im ersten Abschnitt befinden sich Mutter und Tochter zum Vogelbeerenpflücken im Wald. Dabei entdeckt das Mädchen unter einem Reisighaufen einen Kochtopf – ein eindeutiges Anzeichen für die Anwesenheit von so genannten „Waldbrüdern“, d. h. estnischen Widerstandskämpfern gegen die Sowjetmacht, die sich in die Wälder zurückgezogen hatten. Wenig später donnert eine Düsenjäger-Stafette über sie hinweg. Auf dem Rückweg kommen sie an überreifen Feldern und einem leerstehenden Haus vorbei, dessen Bewohner nach Sibirien verschleppt worden sind. Nachdem sie wieder daheim sind, brennt der Mutter die aufs Feuer gestellte Marmelade an, so dass vier Kilo Zucker, ein seltener Rohstoff in der Nachkriegszeit, den das Kind besonders liebt, verloren gehen. In den weiteren Kapiteln erfolgt eine ebenso detailgetreue, selten kommentierte Berichterstattung über die Zustände auf dem Lande in Südestland. Das Kind lebt einsam in einer Erwachsenen- und Bücherwelt, streift auf dem Hof und den benachbarten Anwesen umher, besucht häufig die örtliche Dorfbibliothek und streitet sich gern und leidenschaftlich mit der Großmutter. Die Großmutter ist kaum über Südestland hinausgekommen, kann kein Deutsch und gerade mal acht Wörter Russisch. Sie ist für das Mädchen Symbol alles Alten und Konservativen, während das Mädchen selbst eine Vertreterin des Neuen und der Zukunft ist, eine glühende Verehrerin von Väterchen Stalin. Formal verstärkt wird dieser Kontrast durch den Gebrauch des südestnischen Dialekts in der wörtlichen Rede vor allem der Großmutter einerseits und der vorsichtig dosierten Verwendung politischer Losungen, Radiotexte oder Lieder andererseits, die das Mädchen unbekümmert rezitiert. Sie bestaunt die sich darin ausdrückende neue Welt, ohne die Geschehnisse um sich herum letztlich begreifen, geschweige denn historisch einordnen zu können. Nach einem schneereichen Winter, in dem es ihnen nur mit Mühe gelingt, die Kuh durchzufüttern, während das Kalb aus Futtermangel geschlachtet werden muss, endet der Roman mit dem Beginn des Frühlings und der Hoffnung, dass „unter dem schmelzenden Schnee zusammen mit den Frühlingsblumen auch die düsteren Geheimnisse des schwarzen Fichtendickichts ans Licht kommen: Bunker mit Männern, die durch ihre eigene Hand den Tod gefunden haben, weiße Gerippe von Tieren, die die Wölfe gerissen haben, geheime Gräber und Munitionslager.“
Diese nüchterne Beschreibung einer Kindheit wird dadurch, dass sie in die Zeit nach der Kollektivierung der Landwirtschaft und den Massendeportationen von 1949 fällt, zu einem bestürzenden Rechenschaftsbericht über die Stalinzeit in Estland. Im Zusammenhang mit dieser Kollektivierung hatte Stalin im März 1949 etwa 20.000 Menschen nach Osten deportieren lassen. Nach den Kriegsverlusten, dem Flüchtlingsstrom von etwa 60.000-70.000 Menschen nach Westen und der ersten Deportation von 1941, der rund 10.000 Menschen zum Opfer fielen, war das ursprünglich gut eine Million Einwohner zählende Land streckenweise entvölkert, ca. 170.000 Hektar Ackerland lagen brach. Ein Teil der Männer, die der Deportation entkamen, zog sich in die Wälder zurück und leistete bis weit in die fünfziger Jahre hinein der Sowjetmacht bewaffneten Widerstand.
Dies zu beschreiben oder auch nur zu erwähnen, war in der sowjetischen Literatur bis dahin schlicht unmöglich gewesen, und folgerichtig wurde der Roman eine literarische Sensation. Seine Kraft liegt in der sprachlichen Souveränität und gleichzeitig in der vermeintlich kindlichen Naivität, mit der die Ereignisse ideologiefrei aufgezeichnet sind – ein Verfahren, das es der Autorin ermöglichte, realistisch und stellenweise naturalistisch eine Periode der estnischen Geschichte nachzuzeichnen, die in den Geschichtsbüchern nicht nachzulesen und in der Literatur bis dahin nicht behandelt worden war. Zusätzlich leistete sich die Autorin den Luxus, während des Schreibens hin und wieder aus der Handlung herauszuspringen und Wahrnehmungen aus der Gegenwart einzuflechten. Durch diesen Kontrast wird das Lesepublikum zum Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit aufgefordert. Sowohl in diesen Ausbrüchen aus der Handlung als auch in den zahllosen Erinnerungen, aus denen sich die Haupthandlung zusammensetzt, ist das Buch unverhohlen autobiografisch.
Die Kritik wies zu Recht darauf hin, dass es in diesem Roman nicht um die Geschichte eines Mädchens oder einer Familie geht, sondern um die Geschichte eines Volkes, um die Geschichte Estlands schlechthin. Der Autorin war gelungen, endlich das aufzuschreiben, was eine ganze Generation bewegt hatte. Das Erscheinen des Romans wurde in Estland stürmisch gefeiert, das Buch wurde zum Gesprächsthema, erhielt mehrere Preise und wurde überaus häufig rezensiert. Vielleicht mehr als bei anderen Büchern war der zeitgeschichtliche Kontext des Erscheinens wichtig: In der Sowjetunion wurde mit großem Aufwand der 40. Jahrestag des Kriegsendes (9.5.1985) vorbereitet. Martialische Sprache, bunte Militärorden und heldenhafte Kriegsgeschichten bestimmten das Bild, während niemand über den Frieden nach dem Krieg ein Wort verlor. Luiks Buch tat genau dies und stellte den zahllosen langweiligen Kriegsberichten eine wuchtige Dokumentation über den Frieden in den Weg.
Es verdient darauf hingewiesen zu werden, dass dieser Roman, in dem die Zensur nur zweimal das Wort Roter monierte und durch Parteimitglied ersetzen ließ, lange Zeit vor der in Moskau erfolgten Verkündung von Glasnost und Perestrojka entstanden und nur zufällig zwei Wochen nach Gorbatschows Amtsantritt publiziert worden ist. Er antizipierte die Zeit des Umbruchs in Estland und markierte den Beginn einer neuen Epoche. Der Roman wurde auch im Ausland sehr positiv aufgenommen und in etliche Sprachen übersetzt.
Zeit und Geschichte spielen auch im zweiten Roman Luiks eine besondere Rolle, wie bereits der programmatische Titel andeutet: „Die Schönheit der Geschichte“, geschrieben zwischen April 1990 und April 1991. Der Roman erschien noch im gleichen Herbst, kurz nachdem Estland seine staatliche Unabhängigkeit wiedererlangt hatte.
1968 reist eine namenlose, etwa zwanzigjährige estnische Frau von Tallinn, der Hauptstadt der Estnischen Sowjetrepublik, nach Riga, der Hauptstadt der Lettischen Sowjetrepublik, um dort dem kaum älteren Bildhauer Lion, der jüdischer Abstammung ist, Modell zu sitzen. Zwischen diesen beiden Hauptpersonen entspinnt sich ein sparsam angedeutetes, erst im letzten Kapitel deutlich zum Ausdruck kommendes Liebesverhältnis – die erste große Liebe des Mädchens. Aber das Mädchen befindet sich in einer ihr vollkommen neuen und fremden Welt: Sie versteht – wörtlich und im übertragenen Sinne – die Sprache nicht, denn Lion spricht kein Estnisch, während das Mädchen kaum Russisch kann; die beiden verständigen sich mühselig miteinander auf Russisch. Aber auch die exakt kodierte Geheimsprache in der Rigaer Familie, die angesichts überall vermuteter Abhörgeräte aus Sicherheitsgründen verwendet wird, ist ihr neu: Man darf niemals „Telegramm“ sagen, sondern „ein Stück Butter“, nicht „Ich komme nächsten Mittwoch abend um acht“, sondern „Tante Olga schickt Mutter nächsten Mittwoch die acht schwarzen Mantelknöpfe, die sie haben wollte.“ Sie kennt auch nicht die prekäre Lage der Juden in der Sowjetunion, zumal wenn diese Verwandte im Westen haben: das Leben mit der ständigen Angst vor Hausdurchsuchungen oder das Abdecken des Telefons mit einem Kissen aus Furcht vor dem Abgehörtwerden. Das Mädchen war weitgehend unpolitisch und wird nun mit Begriffen wie „Ausreisegesuch“, das Lion gestellt hat, und „Gestellungsbefehl“, der Lion ereilt hat, konfrontiert. Während Lion nach Moskau fährt, um dort etwas gegen seine Einberufung zum Militär zu unternehmen und sich gleichzeitig nach dem Stand der Dinge hinsichtlich seiner Auswanderung zu erkundigen, treffen Lions im Westen wohnender Vater und dessen in Riga wohnende Schwester, die alles wissende und organisierende Tante Olga, in der Wohnung ein. Das Mädchen unterhält sich mit ihnen, wird schließlich aber des langen Wartens überdrüssig und beschließt, nach Hause zurückzufahren. Im Zug von Riga nach Tallinn wird sie Zeugin, wie „ordentliche Bürger“ langhaarigen Jugendlichen kurzerhand das Haar scheren, und landet durch ein Missverständnis für kurze Zeit bei der Miliz in Tartu, das auf halber Strecke zwischen Riga und Tallinn in Estland liegt. Als sie gehen darf, beschließt sie, nach Riga zurückzufahren. Dort trifft sie Lion wieder; beide fallen einander wortlos in die Arme. Lion hat mit Hilfe von Beziehungen in Moskau alles zur Zufriedenheit regeln können, das Ausreisevisum hat er so gut wie in der Tasche, und der Gestellungsbefehl ist praktisch gegenstandslos geworden. Er fragt das Mädchen, ob sie mitkommen werde, doch sie schüttelt stumm den Kopf. Eine beklemmende Stille füllt das Haus, und Tante Olga, der ein Stein vom Herzen gefallen war, nachdem sie von Lions Erfolgen in Moskau gehört hatte, wird von den beiden tot auf dem Küchenfußboden aufgefunden.
Der Roman ist verhältnismäßig handlungsarm. Er zeichnet wiederum das Bild einer bestimmten Epoche – diesmal das der so genannten 68er-Generation, die ja nicht nur in West-Europa eine historische Zäsur markierte. In Osteuropa war dies nach einem zaghaften Aufbruch gleichzeitig der Beginn der so genannten „Stagnationszeit“, der Zeit der Zementierung von Breschnews Macht nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Mit ihrem Roman legte Luik einen deutlichen Gegenentwurf zur späteren Verklärung der sechziger Jahre vor. Wie sie 1991 in einem Interview sagte, war ihre „persönliche Erfahrung eine ganz andere als die, die man in letzter Zeit häufig über die Goldenen Sechziger` hört. Ich habe schon früher gesagt, dass diese Jahre nicht golden waren, sondern blutig oder wenigstens schmutzig. (…) In den sechziger Jahren wurde der sowjetische Kollektivgeist auch in Estland heimisch. Die sechziger Jahre züchteten eine Generation heran, deren Weltbild und Denkungsart Estland noch lange daran hindern werden, ein wahrhaft demokratischer europäischer Staat zu werden.“ (zitiert nach Andres Langemets).
Diese „Gegendarstellung“ ist der Autorin mit „Die Schönheit der Geschichte“ auch und gerade in der Form gelungen: Nicht zufällig kommt das Wort „Blut“ (oder Zusammensetzungen damit) in dem 120-seitigen Roman fast 50 Mal vor. Der Text ist reich an dichterischer, symbolträchtiger und bisweilen schwerer Metaphorik; sie wird eingesetzt, um den Inhalt des Romans zu illustrieren, was dessen Wirkung vervielfältigt. So wie die Enträtselung des sowjetischen Zeichensystems – z. B. ein bestimmter Geheimcode zur Irreführung von Spitzeln – für Außenstehende nicht leicht war, sind viele Nuancen des Romans nur für den zu erfassen, der sich aufgrund eigener Erfahrungen auf die Bilder einlassen kann. Stärker als im vorangegangenen Roman tritt ein metaphysisches Element in den Vordergrund, symbolisiert durch den häufig in Erscheinung tretenden „Engel des Herrn“, der das Geschehen verfolgt und kommentiert, jedoch niemals eingreift. Hierdurch ergibt sich für die allwissende Erzählerin, die sich zunächst hinter der dritten Person des Mädchens versteckt, die Möglichkeit zur distanzierten Stellungnahme. Sie erfolgt bereits mit der Titelwahl. Die Geschichte besitzt für die Autorin einen zyklischen Charakter, sie ist ein Spiel, das sich mit kleinen Variationen ewig wiederholt. „Und doch ist es immer dasselbe Spiel. Das ist schön und gleichzeitig schrecklich.“ Schönheit kann zudem auch dadurch erzeugt werden, dass der Rahmen, innerhalb dessen sich die Schrecklichkeiten der modernen Welt abspielen, unbestreitbar schön ist – es ist immer derselbe Himmel. Der Beginn des Romans lautet: „Gegen Abend wird der Himmel höher und nimmt seine wahre Gestalt an. Er wird zum Kuppelgewölbe und überspannt mit seltsamer und drohender Selbstverständlichkeit Kriegskommissariate, Milizposten und Paßkontrollpunkte. Wer sich unter dieser Kuppel befindet, für den gibt es kein Entrinnen.“ Im letzten Absatz heißt es: „Der Himmel nimmt wieder seine wahre Gestalt an. Er wird zum Kuppelgewölbe. Alles steht noch bevor. Auch die Zukunft und ihre drohende Schönheit.“ Hier wird abschließend noch einmal die Verwobenheit von Schönheit und Leid hervorgehoben, denn das Ende ist tragisch und hält einen doppelten Tod bereit: den Tod der Tante und den Tod der Liebe, der unweigerlich erfolgt, wenn Lion allein in die Emigration geht.
Wie „Der siebte Friedensfrühling“ fand auch dieser Roman eine ähnlich enthusiastische Aufnahme bei der Kritik und wurde rasch in andere Sprachen übesetzt.
Seit den siebziger Jahren verfasste Luik parallel zu ihrer Lyrik auch Gedichte und Prosa für Kinder. 1979 erschien das schmale Gedichtbändchen „Tubased lapsed“ (Die Kinder im Zimmer), ein weiteres, „Kolmed tähed“ (Dreierlei Sterne), 1987. Die Autorin begnügt sich hierin keineswegs mit konventionellen Fingerübungen für Kinder. Es sind nicht oberflächliche Kinderverse, sondern Gedichte, die die kindliche Welt auch problematisieren, wenn zum Beispiel ein Streit zwischen Eltern und die verstörte Reaktion des Kindes dargestellt werden. An Prosa für jugendliche Leserinnen und Leser legte sie einen Zyklus von drei Büchern vor, der später in einem Band zusammengefasst wurde: „Leopold“ (Leopold, 1974), „Vaatame, mis Leopold veel räägib“ (Schauen wir, was Leopold noch erzählt, 1974) und „Leopold aitab linnameest“ (Leopold hilft dem Mann in der Stadt, 1976).
Leopold, ein Junge vom Land, berichtet in ruhiger, fast bedächtiger Weise über seine Erlebnisse, seine Freunde und seinen Tagesablauf. Hierbei handelt es sich durchweg um alltägliche Ereignisse ohne spektakuläre Begebenheiten. Er erzählt von der Bienenzucht seines Onkels, dem er behilflich ist, von Besuchen im Laden, in der Bibliothek oder im Kino. Im zweiten Teil schildert er unter anderem den Einsatz bei der Kartoffelernte, Erlebnisse in der Schule, das Schlachten eines Schweins und eine Grippewelle, die auch ihn nicht verschont. Aufregendstes Ereignis des dritten Teils ist ein Besuch in der Stadt, wo er beim Dachdecken hilft und Dinge erlebt, die man auf dem Lande nicht mitbekommt, wie beispielsweise die Tatsache, dass man Lebensmittel mit Geld in einem Laden kaufen muss.
Auffällig ist die Sachlichkeit, die der 11- oder 12-jährige Junge bei der Beschreibung der Vorgänge an den Tag legt. Der Autorin ging es nicht darum, heitere Jugendgeschichten mit wilden Abenteuern zu verfassen, sondern nüchtern eine Normalität zu beschreiben, die durch ihre Schlichtheit schon wieder aus der Reihe fällt und bereits im Kind den vollwertigen Menschen sieht.
1992 legte Luik in Zusammenarbeit mit der anerkannten Künstlerin Epp Maria Kokamägi ein Schulbuch vor, „Meie aabits ja lugemik“ (Unser ABC und Lesebuch), das in der Hoffnung geschrieben ist, „dass die estnische Schule den Wunsch und die Fähigkeit hat, sich zu verändern“. Es ist der Versuch, die ideologischen Zwänge endgültig abzustreifen, die in der Schulbuchliteratur nach der 50 Jahre währenden sowjetischen Okkupation noch immer nachhallten. Das Buch, angereichert mit vielen Proben aus dem reichen Schatz estnischer Lyrik, wurde sehr positiv aufgenommen und erlebte mehrere Auflagen.
Eine auf den ersten Blick ganz andere Viivi Luik zeigt sich in ihrem Hörspiel „Koera sünnipäev“ (Der Hundegeburtstag, 1994).
Der Hund hat Geburtstag und soll als Geschenk ein Herz erhalten, das der Sohn des Hauses auf Geheiß des Vaters aus der Kühltruhe holt und zu zersägen beginnt. Die Tochter unterhält sich am Telefon mit ihrer Freundin, der Vater verfolgt die Nachrichten im Fernsehen, die Mutter kommt nach Hause und berichtet von ihren Erlebnissen, während der Sohn an die Arbeit geht und sich dabei zweimal in den Finger sägt. Der Hund bekommt so aber wenigstens frisches Blut zum Geburtstag. Die – laut Regieanweisung namenlosen – Stimmen reden größtenteils aneinander vorbei und reagieren nur bruchstückhaft aufeinander. Weltereignisse, die die Fernsehnachrichten in die Wohnstube bringen, bilden den nicht weniger chaotischen Hintergrund. Am Ende kommt ein Soldat zu Besuch, prahlt mit seinen Erfahrungen und seiner Waffe und beendet – auf mehrfachen Wunsch der Familie – das Chaos mit einer Salve aus seiner Maschinenpistole. Zum Abschluss hört man noch die Stimmen der Tochter und des Sohnes, und es bleibt unklar, wer letztlich am Leben bleibt.
Das in bildreicher Sprache geschriebene kurze – in der Druckfassung nur zwölf Seiten umfassende – Stück ist absurdes Theater, also nicht unbedingt eine mit erhobenem Zeigefinger hervorgebrachte Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen, wohl aber ein eigenwilliger Kommentar dazu. Die zahlreichen Attribute, die das Stück eindeutig am Beginn der neunziger Jahre ansiedeln, unterstreichen diese Intention.
Seit Ende der achtziger Jahre hat sich Luik auch als Essayistin und Kolumnistin betätigt, was zu einem erheblichen Teil mit den politischen Veränderungen zu tun hat. Die geschlossene sozialistische Gesellschaft öffnete sich, und es entstand ein pluralistischer Journalismus, der vielen Autorinnen und Autoren ein notwendiges Zubrot verschaffte, da die Zeit der garantierten Auflagen und Honorare vorbei war. Die Literatur lebte nicht mehr zurückgezogen in einer Nische und focht ihren stillen Kampf mit der Zensur aus, sondern trat hinaus in die Gesellschaft und beteiligte sich wesentlich aktiver an der Gestaltung des kulturellen Lebens. Zudem entstand im Westen ein größeres Interesse an Estland. Bücher wurden übersetzt, Autorinnen und Autoren zur Buchvorstellung oder zu Vorträgen ins Ausland eingeladen. Viivi Luik trat in der Schweiz, in Deutschland, Finnland und Kanada auf – teils um über ihr Land und seine Literatur, teils um über Aspekte ihres eigenen Werkes zu sprechen.
24 solcher Texte hat Luik in dem Bändchen „Inimese kapike“ (Das Schränkchen des Menschen, 1998) zusammengestellt. Sie sind zwischen 1988 und 1998 entstanden und zu einem Gutteil vorher in der estnischen Presse erschienen. Die Autorin entpuppt sich darin als abgeklärte Kulturkommentatorin und Essayistin, die vor allem zu literarischen, aber auch zu allgemeinen (kultur-)politischen Fragen Stellung bezieht. Expliziter als früher formuliert sie ihre poetologische Position: Ziel des Schreibens sei die Verkündung der Wahrheit, und nichts sei gefährlicher als der Versuch, die Wahrheit zu verfälschen. „Auf uns fällt das Blut der Unschuldigen, und wir werden aus dem neuen Jahrhundert und der Erinnerung der Menschen ausgelöscht wie nutzloses Gerümpel, wenn wir nur das Produzieren fortsetzen und im Interesse der Produktion Trugbilder von einer Welt erschaffen, die längst vergangen ist.“
Nicht zuletzt angesichts dieser Haltung wird verständlich, warum Viivi Luik nach ihren überaus erfolgreichen und wichtigen Romanen nicht sofort kontinuierlich weiter produziert hat. Literatur ist in ihren Augen – wertkonservativ und fast altmodisch ausgedrückt – Schöpfung. Jeder ihrer Romane und, in kleinerem Maßstab, jedes ihrer Gedichte schafft eine eigene, neue und, in den Augen der Autorin, wahre Welt.
Prof. Cornelius Hasselblatt
Originalausgaben
„Pilvede püha“. (Festtag der Wolken). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat) 1965. (Noored autorid 1964).
„Taevaste tuul“. (Wind der Himmel). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat) 1966. „Lauludemüüja“. (Die Liedverkäuferin). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat) 1968. „Hääl“. (Stimme). Gedichte. Tallinn (Perioodika) 1968. (Loomingu Raamatukogu 45/1968).
„Ole kus oled“. (Sei wo du bist). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat) 1971. „Pildi sisse minek“. (Eingang ins Bild). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat) 1973. „Salamaja piir“. (Die Grenze des Geheimhauses). Novelle. Tallinn (Perioodika) 1974. (Loomingu Raamatukogu 34/1974).
„Leopold“. (Leopold). Jugendbuch. Tallinn (Eesti Raamat) 1974.
„Vaatame, mis Leopold veel räägib“. (Schauen wir, was Leopold noch erzählt). Jugendbuch. Tallinn (Eesti Raamat) 1974.
„Põliskevad“. (Ewiger Frühling). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat) 1975. „Leopold aitab linnameest“. (Leopold hilft dem Mann in der Stadt). Jugendbuch. Tallinn (Eesti Raamat) 1976.
„Luulet 1962-1974″. (Dichtung 1962-1974). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat)
1977.
„Maapäälsed asjad“. (Irdische Dinge). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat) 1978.
„Tubased lapsed“. (Die Kinder im Zimmer). Gedichte für Kinder. Tallinn (Eesti Raamat) 1979.
„Rängast rõõmust“. (Aus schwerer Freude). Gedichte. Tallinn (Eesti Raamat) 1982.
„Köik lood Leopoldist“. (Alle Geschichten von Leopold). Jugendbuch. Tallinn (Eesti Raamat) 1984.
„Seitsmes rahukevad“. („Der siebte Friedensfrühling“). Roman. Tallinn (Eesti Raamat) 1985.
„Kolmed tähed“. (Dreierlei Sterne). Gedichte für Kinder. Tallinn (Eesti Raamat) 1987.
„Seitse naist“. (Sieben Frauen). Essay. Toronto (Maarjamaa) 1989.
„Ajaloo ilu“. („Die Schönheit der Geschichte“). Roman. Tallinn (Eesti Raamat) 1991.
„Meie aabits ja – lugemik“. (Unser ABC und Lesebuch). Zusammen mit Epp Maria Kokamägi. Tallinn/Helsinki (Hortus Litterarum/Tammi) 1992.
„Koera sünnipäev“. (Der Hundegeburtstag). Hörspiel. In: Looming. 1994. H. 9. 5.1155-1166.
„Inimese kapike“. (Das Schränkchen des Menschen). Essays. Tallinn (Vagabund) 1998.
„Maa taevas“. (Die Erde im Himmel). Gedichte. Tallinn (Varrak) 1998.
„Pilli hääl“. (Die Stimme des Instruments). Libretto. In: Looming. 2000.
Übersetzungen
„Der siebte Friedensfrühling“. („Seitsmes rahukevad“). Übersetzung: Horst Bernhardt. Reinbek (Rowohlt) 1991.
„On aastasaja löpp – Das Jahrhundert ist zu Ende“. Anthologie der Gedichte. [Zweisprachige Ausgabe]. Übersetzung: Gisbert Jänicke. Tallinn (Eesti Raamat) 1993.
„Die Schönheit der Geschichte“. („Ajaloo ilu“). Übersetzung: Horst Bernhardt. Reinbek (Rowohlt) 1995.
Hörspiel
„Koera sünnipäev“. Erstsendung: Eesti Raadio, 4. 12. 1994. Regie: Aare Toikka. Deutsche Erstsendung: „Der Hundegeburtstag“. WDR , 27. 6. 1995.
Sekundärliteratur
V oogla, Helen (Hg.): „Viivi Luik. Kirjanduse nimestik“. (Literaturverzeichnis). Tallinn (Eesti NS V Kultuuriministeerium ) 1977.
Kaplinski, Jaan: „Nagu kanaarilind kaevanduses“. (Wie ein Kanarienvogel im Bergwerk). In: Looming. 1968. H.7. S. 1104-1107. (Zu: „Lauludemüüja“).
Kiin, Sirje: „Viivi Luik“. In: Looming. 1980. H. 10. S. 1437-1455.
N. N.: „Vastused Loomingu` küsimustele“. (Antworten auf die Fragen von „Looming“). (Interview). In: Looming. 1983. H.2. 5.253259.
Hasselblatt, Cornelius: „Viivi Luik und der ,Siebte Friedensfrühling“`. In: baltisches jahrbuch. 1986. S. 227-236.
Hasselblatt, Cornelius: „Fünf Fragen an Viivi Luik den Siebten Friedensfrühling` betreffend“. In: Estonia. 1987. H. 3. S. 109-111.
Jaanus, Maire: „The self in language: Viivi Luik’s Seitsmes rahukevad“. In: Lituanus. 1988. H. 1. S. 36-53.
Jaanus, Maire: „Viivi Luik: War and peace; body and genotext in her novel Seitsmes rahukevad“`. In: Journal of Baltic Studies. 1989. H. 3. S. 265-282.
Kramberg, K.-H.: „Lieber lesen als kämpfen“. In: Süddeutsche Zeitung, 29./30. 5. 1991. (Zu: „Der siebte Friedensfrühling“).
Langemets, Andres: „Kirjandusilu ja ilus ajalugu“. (Die Schönheit der Literatur und die schöne Geschichte). In: Looming. 1991. H. 11. S.1569-1571. (Zu: „Die Schönheit der Geschichte“).
Plöger, Angela: „Ein Haus wie ein Sarg“. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19. 7. 1991. (Zu: „Der siebte Friedensfrühling“).
Wolffheim, Elsbeth: „In dieser Armut, welche Fülle“. In: Neue Zürcher Zeitung, 17. 4. 1991. (Zu: „Der siebte Friedensfrühling“).
Bernhardt, Horst: „Die Schönheit der Geschichte“. In: Estonia. 1993. H. 1. S.50-53. (Zu: „Die Schönheit der Geschichte“).
Andersson, Lea/Maier, Konrad: „Salz und Rauch“. In: Estonia. 1995. H.2. 5.56-59. (Zu: „Die Schönheit der Geschichte“).
Rummo, Paul-Eerik: „, .. aga sa lähed läbi!` (Märkmeid Viivi Luigest)“. („… aber du setzt dich durch!“ Anmerkungen zu Viivi Luik). In: Keel ja Kirjandus. 1996. H. 11. S. 721-726.
Kurvet-Käosaar, Leena: „Multidimensional Time-Space in Margaret Atwood’s Cat’s Eye` and Viivi Luik’s ,The Seventh Spring of Peace“`. In: interlitteraria (Tartu). 1998. S.248-266.
Hasselblatt, Cornelius: „Kann Geschichte schön sein? Zur Konstruktion von Vergangenheit in zwei Romanen Viivi Luiks“. In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte. 1999. H. 2.
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